Was exponentielle Ausbreitung bedeutet, wie Sofortmaßnahmen helfen können und warum eine hohe Beteiligung der Bevölkerung essentiell ist

Nach dem Beginn der Corona-Ausbreitung in Berlin, Deutschland und weltweit wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Gefahr für unser Gemeinwesen in der exponentiellen Ausbreitung des Virus besteht, die es zu verlangsamen gelte, um unser Gesundheitssystem vor einer extremen Überlastung zu schützen.

Die möglichen Sofortmaßnahmen zur Eingrenzung und Verlangsamung der Virusausbreitung reichen von der Isolation Infizierter, einer erhöhten sozialen Distanz, dem freiwilligen zuhause bleiben, bis hin zu angeordneten Einschränkungen des öffentlichen Lebens und Ausgangssperren. 

Im Folgenden illustrieren wir die Bedeutung einer exponentiellen Zunahme von Infektionen und den potentiellen Effekt der genannten Gegenmaßnahmen. Dabei wird eine grundsätzliche Bedingung sehr deutlich werden: eine hohe Erfolgsaussicht für eine verlangsamte Ausbreitung oder gar Überwindung der Krise wird nur bei einer sehr hohen Mitwirkung der Bevölkerung überhaupt möglich sein. 

Leider gibt es im Moment sehr viel Unsicherheit darüber, wie die Ausbreitung des Corona-Virus verlaufen könnte. Verschiedene Experten und Nicht-Experten geben immer neue Prognosen und Zahlen für die kommenden Wochen und Monate heraus. In diesem Text wollen wir keinesfalls eine Voraussage über die tatsächliche Ausbreitung der Corona-Infektionen in den nächsten Wochen machen. Stattdessen wollen wir mit mathematischen Modellen zeigen, welche möglichen Größenordnungen der Ausbreitung in verschiedenen Szenarien erreicht werden können und die wichtigsten Parameter erläutern. Um diese Abgrenzung deutlich zu machen, werden wir in unseren Beispielen von der virtuelle Krankheit Simulitis (wie in [1]) sprechen. Die Eigenschaften und Ausbreitungsmuster von Simulitis basieren auf den bekannten Daten zum Coronavirus. Allerdings haben wir die Komplexität von Simulitis stark vereinfacht, damit die wesentlichen Zusammenhänge besser sichtbar werden. Insgesamt können wir dadurch die Ausbreitung von Simulitis sehr genau mit Computersimulationen modellieren, betrachten und analysieren. Damit können die exponentielle Ausbreitung und ihre Abschwächung durch etwaige Maßnahmen gut veranschaulicht werden.

Um unsere Simulation etwas klarer verständlich zu machen, gehen wir von folgende Annahmen aus:

  • Wir betrachten eine fiktive Stadt mit einer Population von 500 Einwohnern.
  • Die Einwohner unserer fiktiven Stadt bleiben weitgehend unter sich und reisen nicht in andere Städte. 
  • Massenveranstaltungen (Konzerte, Sportveranstaltungen oder ähnliches) gibt es nicht.
  • Wenn die Menschen ihre Wohnungen verlassen dürfen, bewegen sie sich zufällig durch die Straßen und gehen abends wieder nach Hause.
  • Die Wahrscheinlichkeit für die Übertragung der Krankheit beträgt 50%, wenn sich eine infizierte und eine nicht-infizierte Person näher als einen Meter kommen.
  • Gesund wird ein Einwohner unserer fiktiven Stadt nach 14-21 Tagen. Außerdem besteht danach Immunität gegen Simulitis und keine weitere Ansteckungsgefahr durch diese Person.
  • Wir nehmen eine Dunkelziffer von 75% unerkannter Fälle an. Das heißt, dass nur 25% der tatsächlich infizierten Bevölkerung positiv getestet und so als infiziert erkannt werden. 
  • Alle Infizierten, die bisher nicht positiv getesteten wurden, wissen nichts über ihre Infektion und nehmen wie Gesunde am öffentlichen Leben teil. 
  • Von allen Infizierten entwickeln 8% starke bis sehr starke Krankheitssymptome – Menschen dieser Gruppe versterben mit einer Wahrscheinlichkeit von 20%.  

Wir haben für unsere Simulation die folgenden zwei Maßnahmen zur Verfügung:

  • Soziale Distanz: ein Teil der Einwohner (75 bis 90% je nach Szenario) der von uns betrachteten Stadt bewahren einen gewissen Abstand voneinander und beachten Desinfektionsregeln. Damit reduziert sich die Ansteckungswahrscheinlichkeit bei einer Begegnung von 50% auf 25%. 
  • Wenn die Menschen freiwillig oder angeordnet zu Hause bleiben, gehen sie höchstens zum nächstgelegenen Supermarkt. 

Der Startpunkt unserer Simulation ist relativ einfach:

  • Zu Beginn ist nur eine Person infiziert.  

Für alle Szenarios werden wir Videos und Abbildungen benutzen, um den jeweiligen zeitlichen Verlauf der Infektionen in unserer fiktiven Stadt zu zeigen. Es gibt dabei die folgenden Personengruppen und Farbcodierungen:

  • Blau kennzeichnet die gesunden (nicht-infizierten) Einwohner (im Video sind es blaue Kreise).
  • Rot stellt die infizierten Personen dar (im Video: rote Kreuze).
  • Grün repräsentiert diejenigen Stadtbewohner, die immun geworden sind (Video: grüne Kreise).

Gestorbene werden aus dem Bild herausgenommen. Die Kurven an der linken Seite des Videos zeigen die Prozentzahlen von Nicht-Infizierten, Infizierten, Immunen und auch von den Gestorbenen.

Szenario 1: Exponentielle Ausbreitung ohne Gegenmaßnahme

In dem ersten Szenario gehen wir davon aus, dass:

  • keine Maßnahmen ergriffen werden und
  • alle Einwohner sich wie gewohnt verhalten. 

Die zentralen Erkenntnisse dieses simulierten Szenarios sind:

  • Es findet eine sehr schnelle Infektionswelle statt, die die meisten Stadtbewohner erreicht, und nach ca. 35 Tagen auf dem Höhepunkt ist.
  • Im Höhepunkt sind etwa 65% der Bewohner infiziert. 
  • Anschließend sind mehr und mehr Menschen nach überstandener Krankheit immun und die Anzahl der Infizierten nimmt schnell ab.
  • Von den 500 Bürgern der Stadt sterben 14 (2.8%)
  • Nur sehr wenige Menschen werden nicht infiziert.

Visualisierung Szenario 1:

Szenario 2: Exponentielle Ausbreitung mit Gegenmaßnahmen, bei geringer Beachtung

In dem zweiten Szenario gehen wir davon aus, dass:

  • nach 14 Tagen Maßnahmen ergriffen werden, bei denen die Bewohner aufgefordert werden zu Hause zu bleiben
  • es halten sich aber nur ein Drittel alle Einwohner daran. 
  • 75% der Bevölkerung halten stärkere Hygieneregeln ein und wahre soziale Distanz.

Die zentralen Erkenntnisse dieses zweiten simulierten Szenarios sind:

  • Im Vergleich zum ersten Szenario ändert sich trotz der ergriffenen Maßnahmen nicht viel.
  • Die Zahl der Infizierten wächst innerhalb von 35 Tagen sehr stark an erreicht dann das Maximum bei ca. 65% der Bevölkerung. 
  • Von 500 Bürgern der Stadt sterben 11 (2.2%). 
  • Im Vergleich zum ersten Szenario werden etwas mehr Leute nicht infiziert. 

Visualisierung Szenario 2:

Szenario 3: Exponentielle Ausbreitung mit Gegenmaßnahmen, bei höherer Beachtung

In dem dritten Szenario gehen wir davon aus, dass:

  • nach 14 Tagen Maßnahmen ergriffen werden, bei denen die Bewohner aufgefordert werden zu Hause zu bleiben – es halten sich zwei Drittel aller Einwohner daran (statt ein Drittel vorher). 
  • 75% der Bevölkerung halten stärkere Hygieneregeln ein und wahre soziale Distanz.

 

Die zentralen Erkenntnisse dieses dritten simulierten Szenarios über einen Zeitraum von 90 Tagen sind:

  • Die Maßnahmen zeigen deutliche Auswirkungen.
  • Auch dieses Mal wächst zwar die Zahl der Infizierten innerhalb von ca. 40 Tagen sehr stark, erreicht aber das Maximum der Bevölkerung bei „nur“ knapp über 40% - und nicht 65% wie in den vorherigen Szenarien. 
  • Von 500 Bürgern der Stadt sterben 10 (2.0%). 
  • Es werden insgesamt ca. 20% der Bevölkerung nicht infiziert. 
  • Die Dynamik insgesamt wird auch dieses Mal nicht signifikant verlangsamt.

Visualisierung Szenario 3:

Szenario 4: Exponentielle Ausbreitung mit Gegenmaßnahmen, bei hoher Beachtung

In dem dritten Szenario gehen wir davon aus, dass:

  • nach 14 Tagen Maßnahmen ergriffen werden, die einer verhängten Ausgangsbeschränkung gleichkommen.
  • Die Bevölkerung wird aufgefordert zu Hause zu bleiben und es halten sich diese Mal 80% aller Einwohner daran. 
  • 90% (statt 75%) der Bevölkerung halten stärkere Hygieneregeln ein und wahre soziale Distanz.

Die zentralen Erkenntnisse dieses vierten simulierten Szenarios über einen Zeitraum von 150 Tagen sind:

  • Die Maßnahmen zeigen sehr deutliche Auswirkungen und auch die Dynamik insgesamt ändert sich, zugunsten eines verlangsamten Ausbruchs.
  • Die Zahl der Infizierten wächst nur etwa 25 Tage stark an und bleibt dann für etwa zwei Monate auf einem Niveau von 15-20% Bevölkerung.
  • Von 500 Bürgern der Stadt sterben 8 (1,6%). 
  • Es werden insgesamt ca. 42% der Bevölkerung nicht infiziert.

 Visualisierung Szenario 4:

 

Vergleich der Szenarien

Unten sind ist die Ausbreitungsentwicklung in den vier Szenarien nochmal im Vergleich gezeigt: 

  • Szenario 1: Ausbreitung ohne Gegenmaßnahmen
  • Szenario 2: Ausbreitung mit Gegenmaßnahmen bei geringer Beachtung (33%)
  • Szenario 3: Ausbreitung mit Gegenmaßnahmen bei höherer Beachtung (66%)
  • Szenario 4: Ausbreitung mit Gegenmaßnahmen bei hoher Beachtung (80%)

Bitte beachten Sie die verschiedenen Dauern der Ausbreitung (60 Tage bei Szenario 1 und 2, 90 Tage bei Szenario 3 und 150 Tage bei Szenario 4).

Realistische Szenarien für CoVid-19:

Um Szenarien der realen CoVid-19 Ausbreitung zu simulieren, werden erheblich realitäts-nähere Modelle benötigt (reale Bewegungsmuster z.B. in Berlin, realweltliche Massendaten über Verhaltensmuster und soziale Nähe, z.B. das Zusammenleben in Haushalten oder längere Kontakte aus beruflichen Gründen betreffend). Das erfordert sehr viel mehr moderne Mathematik, als hier darstellbar. Einen sehr einfachen datengetriebenen Ansatz zur Vorhersage der Infektionszahlen haben wir zur Veranschaulichung unter http://iol.zib.de/covid19/ verfolgt.

Referenz:
[1] Washington Post: Why outbreaks like coronavirus spread exponentially, and how to “flatten the curve”, by Harry Stevens. March 14, 2020. https://www.washingtonpost.com/graphics/2020/world/corona-simulator/